Tschirchs Hohelied wurde von einer Fee gerettet

Das erste Bild von Egon Tschirch, das mich beeindruckt hat, hängt im östlichen Langhaus der Rostocker Marienkirche. Es zeigt das zerstörte Rostock nach den Bombenangriffen im April 1942.  Der Maler und sein Werk waren mir seinerzeit noch völlig unbekannt, aber das Gemälde weckte mein Interesse. Ich erfuhr, dass der Künstler außerordentlich produktiv gewesen war und unter anderem eine große Anzahl von Stadtansichten des unzerstörten Rostocks geschaffen hatte. Daraufhin beschloss ich, solch eine Ansicht aufzuspüren und für meine eigenen vier Wände zu erwerben. Einzelne Tschirch-Bilder werden immer mal wieder bei Auktionen angeboten, im Kunsthandel oder von Privatpersonen veräußert. Also begann ich im Internet zu suchen.

Um einen Schatz zu entdecken, braucht man aber mehr als ebay und Auktionsportale. Eine Idee und eine Portion Glück kamen im Frühjahr 2015 zusammen. Ich hatte ohne konkrete Absicht „Bilderfund Egon Tschirch“ in Suchmaschinen eingetippt und stieß in einem Kunstforum namens Artring auf diesen merkwürdigen Eintrag:

„Hallo zusammen, haben auf dem Speicher meiner Uroma eine Serie von Aktbildern gefunden. Nach den Aufzeichnungen meiner Oma war sie mit dem Künstler bekannt… Die Bilder sind alle mit Egon Tschirch, 1923 signiert. Über Anmerkungen und Hinweise würden wir uns freuen.

Danke fürs Lesen. Fee2373. 1.1.2010“

Zwei Bilder waren angefügt. Unscharf – aber mit Signaturen, die eindeutig Egon Tschirch zugeschrieben werden konnten. Obwohl ich die Abbildungen inhaltlich überhaupt nicht einordnen konnte, fand ich die Sache spannend. Der Internet-Eintrag war zu diesem Zeitpunkt aber schon fünfeinhalb Jahre alt, direkte Kontaktaufnahme mit den Urhebern wegen des Pseudonyms unmöglich, eine Adresse gab es nicht. Trotzdem ließ ich die Hoffnung nicht fahren, Fee2373 vielleicht doch ausfindig zu machen. Offensichtlich schien mir, dass es sich bei Fee um eine Frau handeln musste und sie eventuell am 2.3.73 geboren sein könnte. Ich vermutete, dass sie diesen Namen nicht nur in einem Forum gebraucht hatte, und wurde tatsächlich fündig – bei stayfriends. Über das Schulfreunde-Portal fragte ich höflich an, und die Fee reagierte tatsächlich!

Fee, mit wirklichem Namen Michaela Plog, lebte seit langem mit ihrem Mann Peter im Rheinland und hatte den fünf Jahre alten Eintrag vom Neujahrstag 2010 bereits völlig vergessen. Und – ja! – die Bilder seien immer noch da. Und zwar einige mehr als zwei.

In der Folge entwickelte sich zwischen uns ein reger Mail-Austausch – über mehrere Monate. Dabei stellte sich heraus: Im Jahr 2008 waren beim Umzug von Peter Plogs Mutter auf deren Dachboden erotische Bilder aufgetaucht, die jemand in ein Laken eingewickelt hatte. Niemand wusste, worum es sich handelte, die ältere Frau erinnerte sich aber, dass die Bilder aus dem Erbe der Urgroßmutter stammten und über die Großmutter an sie weitergegeben worden waren.  Die Familie hatte über mehrere Generationen bis kurz vor dem Mauerfall in der Berliner Uhlandstraße 29 unweit des Kurfürstendamms gelebt. Peter Plog wusste noch, dass es ihm als Kind in den 70er-Jahren strengstens untersagt gewesen war, in den dortigen – ohnehin verriegelten – Keller zu gehen.

Vor dem Umzug 2008 war das alte Bilderbündel beim Entrümpeln bereits auf der Seite der aussortierten Sachen gelandet. Die gute Fee konnte zum Glück verhindern, dass es auf den Sperrmüll kam. Sie habe sich damals auf Anhieb in die Gemälde verliebt, schrieb sie mir. Ihr Mann ließ sich überreden, die Bilder überlebten, einige davon wurden wenig später gerahmt und schmückten fortan die eigene Wohnung im Rheinland. Dann begann das Ehepaar zu recherchieren, erfuhr im Netz einiges über den Maler Tschirch, fand aber nichts Vergleichbares zu den geretteten Bildern. Von ihren Vorfahren wussten die Plogs bezüglich Mecklenburg lediglich, dass eine Urgroßmutter ein paar Jahre in Rostock gelebt haben soll – wie ja auch Tschirch. Sonst gab es keine Verbindung in den Norden.

Ein paar ihrer freizügigen Tschirch-Bilder stellten Michaela Plog und ihr Mann sowohl einem Auktionator als auch einem Galeristen in Köln vor. Beide lehnten dankend ab, es handele sich „um nichts Besonderes“, hieß es.  Nachdem auch auf den Eintrag in dem erwähnten Internet-Kunstforum im gesamten Jahr 2010 niemand reagierte, brach das Paar die Nachforschungen ab. Die Bilder landeten, so sie nicht an der Wand hingen, sorgfältig in Papier eingewickelt im Schrank.

Bis ich mich im Mai 2015 bei Michaela und Peter Plog meldete. Auf meine Bitte, Fotos der vorhandenen Werke betrachten zu können, schickten sie Aufnahmen weiterer Gemälde. Zu diesem Zeitpunkt war für mich nicht absehbar, um wie viele es sich tatsächlich handeln würde. Als Rostocker betrachtete ich die Arbeiten von Anfang an als Kulturgut meiner Stadt und hatte das Bedürfnis, sie an ihren Ursprungsort zurückzuholen. Also fuhr ich ins Rheinland, um sie persönlich in Augenschein zu nehmen. Dabei gelang es glücklicherweise, einen für beide Seiten akzeptablen Kaufvertrag aufzusetzen, so dass ich im August 2015 eine so nicht erwartete Anzahl von 18 (!) Bildern erwerben und nach Rostock heimbringen konnte.

Zu diesem Zeitpunkt war mir lediglich klar, dass es sich um echte Tschirch-Bilder handelte, nicht aber, was sie eigentlich darstellten und welche Bedeutung sie hatten. Dass ich sie trotz des schwer einschätzbaren Risikos kurzerhand kaufte, lag entscheidend an der Einschätzung meines guten Freundes Jan-Peter Schröder, der sich als Kulturjournalist über viele Jahre mit Mecklenburger Künstlern beschäftigt hatte.  Das sei „sehr wohl etwas Besonderes“, sagte er mir am Telefon, nachdem ich ihm die Fotos zur Ansicht nach Rostock geschickt hatte, und fügte hinzu: „Das scheinen tolle Bilder zu sein. Und wenn die von Tschirch sind, dann hat sie hier keiner auf dem Zettel.“ Verhaltener war hingegen die Reaktion meiner großen Familie, als ich mit meiner Erwerbung nach Hause kam. Besonders die hohe Anzahl von 18 Werken ließ sie an meinem gesunden Verstand zweifeln.

Der folgende Tag brachte mir dann glücklicherweise Sicherheit. Nachdem er die Bilder im Original gesehen hatte, bekräftigte mein Kunstfreund Jan-Peter seine Einschätzung. Dieses positive Urteil wurde von der ob des Fundes überraschten Rostocker Tschirch-Expertin Dr. Heidrun Lorenzen geteilt.  Auch Dr. Katrin Arrieta, Künstlerische Leiterin des Kunstmuseums Ahrenshoop, war begeistert. Sie bezeichnete diesen Fund als „kleine Sensation“ und sagte, dass sie ihn gern in dem neuen Museum auf dem Fischland zeigen würde. Ich war sehr erleichtert und konnte fortan daran gehen, die Rätsel der Motive und der Provenienz zu lösen.

Beim genauen Inspizieren der Kartons bemerkte ich, dass drei von ihnen auch auf den Rückseiten bemalt waren. Überdies fiel auf, dass man einige mit Nummern versehen hatte – bis maximal Nr. 19.

Es musste sich also um eine Reihe in einer bestimmten Abfolge handeln. Dann machte mich Jan-Peter Schröder auf die die bereits 90-jährige Rostocker Malerin Mechthild Mannewitz aufmerksam:  Sie war die letzte Schülerin von Egon Tschirch gewesen, von 1946 bis zu seinem Tod 1948. Vielleicht wusste sie ja noch etwas über diese rätselhaften Liebesszenen? Wir konnten sie in ihrem Zuhause am Rostocker Neuen Markt aufsuchen und ihr die Bilder zeigen. Sie fand sie bemerkenswert, konnte sie jedoch auch nicht einordnen. Dafür holte sie aber eine Kiste mit sieben alten Tagebüchern hervor, die ihr 1948 von Tschirch persönlich überlassen worden seien. Wir könnten da gerne mal reinschauen, sagte sie, was wir an Ort und Stelle taten. In die Bücher hatte Tschirch fein säuberlich alle ihn betreffenden Zeitungsartikel der Jahre 1919 bis 1934 eingeklebt. Nach nur kurzem Blättern hatten wir es. Jan-Peter war auf einen Bericht vom April 1923 gestoßen, in dem der gefundene Bilderzyklus exakt beschrieben wurde:

„Am Ostersonntagmorgen hatte unser Rostocker Maler Egon Tschirch zu der Eröffnung einer Sonderausstellung nach dem städtischen Museum eingeladen […].    Das „hohe Lied“ hatte den jungen Maler schon mehr als ein Jahrzehnt hindurch beschäftigt. Eine große Anzahl von Entwürfen sei entstanden, als sich die Visionen des Künstlers zu Bildern verdichteten […]. Die Fruchtbarkeit der malerischen Phantasie Egon Tschirchs ließ nun mehr als fünfzig Bilder erstehen. Von diesen hat der Künstler mit eiserner Selbstkritik weit mehr als die Hälfte ausgeschieden. Es sind neunzehn Bilder, die in der Sonderausstellung vereinigt sind.“ (Mecklenburger Warte, 4. April 1923)

Aus weiteren Artikeln ging hervor, dass der Bilderzyklus im Februar 1924 ebenso im Landesmuseum Schwerin ausgestellt war. Die Kritiken fielen damals durchweg euphorisch aus. Das Rätsel der erotischen Motive war damit jedenfalls gelöst: Das biblische Hohelied auf die Liebe!

In der Schweriner Schau 1924 waren neben den 19 Hohelied-Interpretationen auch fünf Karikaturen prominenter politischer Persönlichkeiten des Freistaates Mecklenburg-Schwerin zu sehen gewesen. Genau diese fünf Federtusche-Zeichnungen fanden sich 2008 mit in den Laken eingewickelt. Das lässt darauf schließen, dass man die Hohelied-Bilder wohl bereits 1924 eingelagert hatte. Warum die Serie aber seit Ende der 20er-Jahre für lange Zeit versteckt wurde, lässt sich nur vermuten. Hatte es mit den freizügig-erotischen Motiven zu tun? War es vielleicht die Sorge, dass die expressiven Bilder von den Nazis als entartet bewertet werden könnten, so dass man sie in der Zeit von deren Herrschaft weiter unter Verschluss hielt? Und waren die Bilder währenddessen ohne jegliche Erklärungen in der Familie weitergegeben worden?

Folgendes ließ sich auf der Grundlage der Zeitungsrezensionen aus den 20er-Jahren nachvollziehen:

Bis zum Frühjahr 1923 hatte Tschirch 50 Bilder zum Hohelied-Thema gemalt, von denen heute 27 erhalten sind (24 Kartons plus 3 Rückseiten). Aus den 50 Arbeiten hatte der Künstler 19 für die Ausstellung ausgewählt. Diese Bilder nummerierte er auf den Rückseiten und arrangierte sie persönlich an den Ausstellungswänden. 13 der 19 nummerierten Kartons sind erhalten geblieben. Anhand dieser Bezeichnungen lässt sich heute die Hängung von 1923 rekonstruieren. 14 weitere erhaltene Studien ohne Nummerierung zeigen sowohl wiederkehrende als auch gänzlich andere Motive. Diese könnten Hinweise darauf liefern, was auf den vier fehlenden nummerierten Bildern dargestellt sein könnte.

Nach der Lösung des Motivrätsels galt es, das Geheimnis der Provenienz aufzudecken. Wie und auf welchen Wegen gelangten die Bilder aus Rostock zu einer Familie im Westen Deutschlands?

Ich forschte nach Hinweisen in Rostocker und Schweriner Archiven und konnte das zu Erwartende beweisen: Die Rheinländer haben tatsächlich Wurzeln in Mecklenburg und zwar sowohl in Rostock als auch in Schwerin. Ein Urgroßvater namens Wilhelm Plog wurde wie Tschirch 1889 geboren, Plog jedoch in Schwerin, als Sohn eines großherzoglichen Hofdekorationsmalers. Er erlernte wie Tschirch den Beruf eines Kunstdekorationsmalers und arbeitete von 1919 bis 1928 in Rostock in einem eigenen Atelier. Am 22. August 1928 erschoss er sich in seiner Wohnung am Alten Markt. Begraben wurde er in Schwerin.

Wie der Bilderzyklus in den Besitz der Familie Plog gelangte, ließ sich nicht rekonstruieren. Die Witwe Elfriede ging 1929 mit beiden Kindern zurück in ihre Heimatstadt Berlin und lebte fortan unweit des Kurfürstendamms. Das Haus in der Uhlandstraße 29 überstand Nazizeit, Krieg und auch die Teilung der Stadt. Im dunklen, gesicherten Keller verborgen, blieb das „Hohelied“ von Egon Tschirch erhalten. Der Kreis schließt sich Generationen später mit dem Urenkel Peter. Die rheinischen Bewahrer des Zyklus´ haben unverhofft in Mecklenburg Vorfahren bis zu ihren Ururgroßeltern gewonnen.

Nach genau 93 Jahren konnte der Bilderzyklus im Frühjahr 2017 erstmals wieder der Öffentlichkeit gezeigt werden: Im Kunstmuseum Ahrenshoop wurden alle 24 Bilder des Fundes ausgestellt, sowohl die 18 nach Rostock zurückgekehrten, als auch die sechs noch im Rheinland verbliebenen. Eine in meinem Leben einmalige Fundgeschichte fand damit ihren vorläufigen Abschluss.

Trotzdem stellte sich mir eine Frage immer wieder: Wo sind die fehlenden Teile der Hohelied-Bilder?

Im Frühjahr 2019 meldeten sich Michaela und Peter Plog unverhofft erneut. Die Mutter beziehungsweise Schwiegermutter war ein weiteres Mal umgezogen. Dabei tauchten im Umzugsgut nochmals vier bis dato unbekannte Tschirch-Bilder auf. Auch die Plogs warn nun von dem Gedanken besessen, den Zyklus zu vervollständigen. Sie boten mir ungefragt an, sowohl die vier neuen als auch alle noch im Rheinland verbliebenen gerahmten Arbeiten zur Erforschung nach Rostock zu bringen.

Ich beauftragte den erfahrenen Rostocker Bilderrahmer Jürgen Fuhrmann, die vor einem Jahrzehnt unprofessionell beklebten Rückseiten so vorsichtig wie möglich von den Passepartouts zu trennen. Schließlich konnte man dort mögliche Original-Nummerierungen von Tschirch erwarten. 13 von 19 nummerierten Werken des Zyklus´ waren bekannt. Mochten doch bitte sechs der neun neu zu begutachtenden Bilder mit Bleistift beziffert sein! Jürgen Fuhrmann war tatsächlich in der Lage, alle Rückseiten offenzulegen, und teilte mir mit: „Leider sind jedoch nur fünf mit Ziffern versehen. Dafür gäbe es eine weitere bemalte Rückseite mit bisher unbekanntem Motiv“. Wenn auch von dieser Telefon-Nachricht enttäuscht, machte ich mich doch sofort auf den Weg in seine Werkstatt. Eine letzte Hoffnung bleibt. Eine der 4 bereits bekannten bemalten Rückseiten war vom Künstler seitenverkehrt verwendet und dabei auch seitenverkehrt beschriftet worden – könnte das nicht jetzt erneut so sein?! Beim Eintreffen in der Werkstatt untersuchte ich unverzüglich die neu aufgetauchte Rückseite – und tatsächlich: es zeigte sich eine zweite seitenverkehrt verwendete Rückseite mit entsprechender Beschriftung! Ich hielt das letzte fehlende Puzzlestück in der Hand! Alle 19 nummerierten Arbeiten liegen nun vor: Damit ist der Zyklus komplett!

Ulf Kringel (2019)

Literatur

„Egon Tschirch – Leben und Werk“. Hrsg. Kulturhistorische Gesellschaft e.V., Hinstorff Verlag 2020