Warum diese Architektur?
Unser Gast, der Berliner Architekt Erich Mendelsohn, der zur Zeit auch in Stuttgart den Bau eines Kaufhauses ausführt, machte bei der Eröffnung des Kaufhauses Schocken in Nürnberg folgende Ausführungen:
Nur hundert Jahre zurückdenken:
Reifrock und Perücke,
Talglicht und Spinnrad,
Sänfte und Postkutsche,
Gemischtwarenhandlung und Handwerkerzünfte – ,
dann an uns denken: jetzt, nur an das, was um euch ist:
Kniefrei und Sportfrisur,
Radio und Film,
Auto und Flugzeug,
Konsumspezialhaus und Warenhauskonzern.
Denkt nicht, das sind Aeußerlichkeiten –
die Innerlichkeiten stehen dahinter.
Vor hundert Jahren – wie heute.
Gewiß, Mensch bleibt Mensch, und der Himmel ist weit, wie ehedem.
Aber die Welt um euch ist ungeheuer belebt, Millionenstädte, Wolkenkratzer, 8 Stunden Flug von Moskau nach Berlin.
Napoleon brauchte Monate dazu und ging dabei zugrunde.
Und ihr fragt, wozu diese Architektur?
Also kein Wunder, sondern ein Ergebnis des Lebens selbst, unseres Lebens, unserer Zeit.
Also nicht, um etwa gegen den schönen Brunnen oder Sankt Sebaldus pietätlos zu sein.
Nicht, um ins Museum Nürnberg einen Stein zu werfen.
Nur, um aufrichtig zu sein.
Ihr verlangt doch Aufrichtigkeit? Von euren Freunden, von jedem Menschen?
Und ihr wollt euch täuschen lassen von den Dingen, die euch umgeben, von eurem Haus, eurem Lieferanten?
Sind das Dinge etwa, die nicht zu euch gehören – euer elektrischer Kocher, euer Rasierapparat?
So zweckmäßig, so einfach, so selbstverständlich.
Also, unmöglich das wegzudenken.
Also, unser Leben ableugnen zu wollen, ist Selbstbetrug, ist kümmerlich und feig.
Neue Entwicklung auch nur zurückdrängen zu wollen,
ist Selbstopferung, töricht und aussichtslos.
Also, seid mutig, seid klug.
Faßt das Leben beim Schopf, gerade dort, wo sein lebendigstes Herz schlägt, mitten im Leben, mitten in Technik, Verkehr und Wirtschaft.
Nehmt es grad wie es ist, nehmt seine Aufgaben, wie es sie stellt, euch, heute, uns allen.
Denn jede verlangt Zweckmäßigkeit, Klarheit, Einfachheit.
Jede muß zweckmäßig sein, weil jede Arbeit zu wertvoll ist, um sinnlos vergeudet zu werden.
Klar, weil nicht nur Auserwählte, sondern jeder Verstand sie verstehen soll.
Einfach, weil gerade die beste Leistung auch immer die einfachste ist.
Niemals hat eine kraftvolle Zeit einer andern mehr zugetraut als sich selbst.
Und da sollen wir Architekten allein nachhinken und Perücken tragen, wir Ingenieure und Baumeister, die euer Haus bauen, eure Städte, die ganze faßbare Welt?
Laßt euch nichts einreden; nur wer nicht vergessen kann, hat keinen freien Kopf. Nur wer nichts erfinden kann, ist unfruchtbar. Nur wer nicht lebt, stirbt vor der Zeit.
Nur wer keinen Rhythmus hat im Leib – denk nicht an Jazz, sei ernst – versteht nicht den metallenen Schwung der Maschine, das Surren des Propellers, die ungeheure neue Lebendigkeit, die uns anfacht, beglückt und schöpferisch macht.
Ihr sagt, es gibt keine Bauherren? Hier sind sie!
Aber: Palastfassaden, Dekorationspomp und Puppenfenster sind weit zurück.
In den Raum hinein die Massen aufgeschichtet, aus dem Grundriß der Bau gezaubert in die Luft.
Hier liegt die Treppe, hier der Eingang, hier die Fensterbänder über den Regalen.
Treppe, Aufgang, Fensterbänder hinein in den Rhythmus der sausenden Autos, des Schnellverkehrs.
Laßt euch nicht hetzen. Beherrscht die Zeit.
Laßt euch nicht foppen. Ihr seid die Herren.
Sei Schöpfer, Architekt, gestalte deine Zeit.
Das sind deine Verpflichtungen, her mit deiner Verantwortung, sei Führer.
Darum diese Architektur.
aus: Faltblatt zur V.R.K.-Ausstellung Juni 1928 ꓲ Quelle: Stadtarchiv Rostock