Margarete Scheel in der Ausstellungsreihe „Künstler der V.R.K. im Dialog mit Positionen zeitgenössischer Kunst in Rostock“ –  Kunstverein zu Rostock 24. Juli 2024

Eröffnungsrede zur Ausstellung von Klaus Tiedemann

Die jüngere Kunstgeschichte Rostocks seit Beginn des 20. Jahrhunderts weist eigentlich erst nach dem 2. Weltkrieg eine Blüte der Plastik und Bildhauerkunst aus. Seit den 1950er Jahren siedelte sich eine Gruppe von jungen Vertretern der Gattung, die gerade die Kunsthochschulen in Berlin oder Dresden absolviert hatten, in der Hansestadt an und prägte mit ihren Werken im öffentlichen architektonischen Raum das künstlerische Gesicht der Stadt. Den Werken Wolfgang Eckardts, Reinhard Dietrichs, Jo Jastrams, Wolfgang Friedrichs und Anne Sewz begegnet man in den städtebaulichen Zentren und Wohngebieten allenthalben bis nach Warnemünde.

In den ersten Jahrzehnten seit der Jahrhundertwende war die Gattung der Bildhauerei in Rostock mit nur wenigen hier ansässigen Vertretern präsent. Der Maler und Bildhauer Paul Wallat gehörte dazu, der sich landesweit mit konservativen Gefallenendenkmalen hervortat, und Walter Rammelt, der sich schließlich dem Bühnenbild zuwandte.  Als im allgemeinen wirtschaftlichen und schließlich auch kulturellen Aufbruch nach dem Ende des 1. Weltkrieges im Jahre 1919 die Vereinigung Rostocker Künstler gegründet wurde, waren es die Maler um Egon Tschirch, Bruno Gimpel, Hans Emil Oberländer und Thuro Balzer, die die Initiative ergriffen. Im Verlaufe der Existenz der V.R.K. als eigenständige und unabhängige Künstlervereinigung bis zum Jahre der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933, gehörten ihr 27 Mitglieder an; neben den dominierenden Malern und wenigen Malerinnen (Dörte Helm, Hedwig Woermann), sieben Architekten, und mit Walter Rammelt, Margarete Scheel und Hertha von Guttenberg wenige Bildhauer, von denen sich Margarete Scheel als innovativste und der künstlerischen Moderne verpflichtet in bemerkenswerte Weise hervorhebt.

Dabei hatten es Frauen, die sich in der Kunst der ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ohnehin gegen manche Widerstände und Vorurteile in der Gesellschaft und gegen die Übermacht männlicher Kollegen wehren mussten, erst recht im Metier der Plastik und Bildhauerei wahrlich nicht leicht, sich durchzusetzen. Allgemein herrschte die Meinung, dass ihnen die körperliche Kraft für solche Kunstausübung fehle. Als der Rostocker Kunsthistoriker Oscar Gehrig Margarete Scheel 1925 in den Mecklenburgischen Monatsheften eine erste ausführliche und bebilderte Darstellung ihres Schaffens widmet, beginnt er mit den einführenden Sätzen „Unter den Bildhauern Mecklenburgs, ja Niederdeutschlands, nimmt Margarete Scheel aus Rostock, wo sie auch tätig ist, einen hohen Rang ein. Dies nicht nur wegen der Vielfältigkeit ihres Schaffens, das sie in allen Haupttechniken als Meisterin zeigt, sondern vor allem wegen der fast männlichen Kraft und Beherrschung, die jedes ihrer Werke kennzeichnen.“

Willenskraft und Zielstrebigkeit haben die Persönlichkeit Margarete Scheels auf ihrem Weg zur Kunst fruchtbringend bestimmt, als sich die in Rostock im Jahre 1881 geborene Tochter aus gutbürgerlichem Haus für eine künstlerische Ausbildung und eine entsprechende zukünftige Tätigkeit entschließt. Schon als sie im Jahre 1903, nach privater höherer Töchterschule und Lehrerinnenseminar in Rostock, also gerade 22jährig, nach Berlin geht, soll sie sich als Bildhauerin bezeichnet haben. Berlin war ein gutes Pflaster für bildkünstlerische Ambitionen. Hier konnten in zahlreichen offiziellen und privaten Studienmöglichkeiten Grundlagen für eine künstlerische Berufswahl gelegt werden. Zu den Stationen ihrer Ausbildung dort gehören die Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums und die renommierte, ursprünglich vom Deutschen Werkbund gegründete Reimann-Schule für Kunst- und Kunstgewerbe. Dort ist sie auch mit Ton als Gestaltungsmaterial in Berührung gekommen. Längere Zeit arbeitet sie in den ebenso  renommierten „Studien-Ateliers für Malerei und Plastik“ von Arthur Lewin-Funcke. Schließlich erweitert sie ihr Künstlerisches Handwerk durch grundlegende figürliche Zeichenstudien bei Berliner Malern wie Hans Baluschek und Lovis Corinth. War Berlin schon eine Gärzelle vielfältigster künstlerischer Anregungen, so bedeuteten Studienaufenthalte im europäischen „Kunstmekka“ Paris die höheren Weihen. Margarete Scheel unternimmt das 191o/11 bei keinem Geringeren als Aristide Maillol, dem Mitbegründer der künstlerischen Moderne in der Plastik.

Damit schließt sich ein Kreis des künstlerischen Werdeganges der Margarete Scheel. Nach einem Rom-Aufenthalt mit eigenem Atelier 1913/14 kehrt sie für einige Jahre nach Berlin zurück, wo sie seit 1911 immer wieder gelebt hat, und nimmt dort bis zu ihrer endgültigen Rückkehr nach Rostock im Jahre 1920 aktiv Anteil an der aktuellen, sich in alle möglichen zeitgenössischen Richtungen entwickelnden Kunstszene; von Expressionismus bis Jugendstil und von Art dèco bis Neue Sachlichkeit. Sie wird Mitglied der Neuen Sezession, in der sich 1914 Künstler unter der Führung einer Reihe arrivierter Kollegen zusammenfanden, um sich gegen Verkrustungen in Kunst und Gesellschaft zu wehren.  Daraus wird 1918 auf Initiative der Maler Max Pechstein und Caesar Klein die sog. „Novembergruppe“ als Zusammenschluss oppositioneller Architekten, bildender Künstler, Schriftsteller, Filmschaffender und Komponisten. Als sich die „Novembergruppe“ 1919 an der Berliner Kunstausstellung beteiligt, ist Margarete Scheel mit der Figur einer  „Sitzenden“ beteiligt. Zu ihren Kollegen in der Ausstellung gehören Maler wie Marc Chagall, Erich Heckel, Max Pechstein und Paul Klee und der dann in Ahrenshoop wirkende Hans Brass. Als Bildhauer sind u. a. Rudolf Belling, Otto Freundlich und Bernhard Hoettger dabei. Da war sie in bester Gesellschaft.

Berlin war ein Zentrum der Erneuerung der Bildenden Kunst am Beginn des Jahrhunderts. Das galt auch für die sich entwickelnde Szene der Bildhauerinnen, die in die männliche Domäne eindringen. In Berlin wirken in jenen Jahren die wesentlichen von Kunstkritik, von Kunsthandel und Museen ernst genommenen Frauen im Metier: Milly Steger (1881 – 1948), Renèe Sintenis (1888 – 1965) und Emy Roeder (1890 – 1971). 1916 stellt Käthe Kollwitz (1867 – 1945) erstmals im Rahmen der Neuen Sezession eine Gipsfigur aus. Elemente der individuellen und sehr originären bildhauerisch-plastischen „Handschriften“ dieser an der menschlichen Figur orientierten Bildhauerinnen finden sich in den Figurenschöpfungen Margarete Scheels, die sich damit durchaus auf der Höhe der Zeit bewegt. Für sie alle, wie eben auch für Margarete Scheel, gilt die Maxime ihres großen Kollegen Ernst Barlach, dass die menschliche Figur die Muttersprache des Bildhauers sei!

Waren es private oder berufliche Gründe, die unsere Künstlerin dann doch bewegten, 1920 aus einem Zentrum prosperierender Kunstentwicklungen der Metropole in die mecklenburgische Provinz ihrer Heimatstadt Rostock zu wechseln? Immerhin kehrt sie in den Schoß der Familie zurück, hat aber auch gute Erfahrungen mit den sich entwickelnden wirtschaftlichen und kulturell-künstlerischen Verhältnissen der Stadt. 1910 hatte sie in Rostock ihren ersten größeren Auftrag für baugebundene Werke an einem Bankgebäude. Mit dem Honorar hat sie dann die Auslandsaufenthalte in Paris und Rom finanziert. In der Nazi-Zeit wurden die drei großen Reliefs wohl aus Gründen bauplanerischer Veränderungen der architektonischen Situation entfernt und vernichtet. Dem neuen Stadtregime der Nazis war die an der Moderne orientierte Kunst Margarete Scheels ohnehin suspekt und als „entartet“ verdächtig.

Die 1920er Jahre, das erste und vielleicht wichtigste Rostocker Schaffensjahrzehnt Margarete Scheels, waren eine Blütezeit für Kunst und Kultur der Hansestadt. Für die Kunstszene trugen dazu vor allem die Aktivitäten und Ausstellungen des Kunstvereins und der Vereinigung Rostocker Künstler bei, der Margret Scheel 1922 beitrat. Der allgemeine Wirtschaftsboom förderte das Bauwesen, das sich in privaten,  vor allem in öffentlichen Aufträgen für Neubauten von Schulen, Verwaltungseinrichtungen, von Industrie- und Zweckbauten ausdrückte; von Wohnanlagen, dem Doppel-Lyzeum (das heutige Goethe-Gymnasium), einem Krematorium bis zum Warnemünder Kurhaus. Die Stadt zog Architekten an, die sich an den neuen, modernen und zukunftsweisenden Gestaltungsrichtungen orientierten, vom Deutschen Werkbund bis zum Bauhaus. Maler, Bildhauer und Architekten wirkten gemeinsam als Mitglieder der V.R.K. an diesem Prozess. Zu ihnen gehörten allein sechs Architekten, darunter mit Walter Butzek (der den Warnemünder Teepavillon baute)  und Karl Ernst Boy (der mit seinem architektonischen Ribnitzer Gefallenendenkmal  die Idee des Ehrenmals revolutionierte) zwei der führenden Vertreter ihres Fachs in Rostock.

1926 wird der Neubau der Gewerbeschule als erstes großes städtisches Bauvorhaben jener Zeit realisiert. Architekt war der Stadtbaudirektor Gustav Wilhelm Berringer, der Margarete Scheel in einer fruchtbaren, sich ergänzenden Zusammenarbeit, in die äußere Gestaltung des Architekturwerks einbezog. Deutlich wird das vor allem in den expressionistischen Grundklängen der Gestaltung von Architektur und plastischen Bildwerken am Altan-artigen Eingangsbau der Schule, der im besten Sinne eine moderne Variante des Gesamtkunstwerkes von Architektur und bildender Kunst darstellt. Vier ein wenig überlebensgroße, expressiv stilisierte Figuren personifizieren Eisen, Holz und Stein sowie Farbe als Werkstoffe. Tektonische Gliederung und Ordnung der Formdetails implizieren expressionistisch-kubistische Bildsprachen der plastisch-bildhauerischen Moderne.   Die beiden plastischen Gruppen „Arbeit“ und „Erholung“ ergänzten das Figurenprogramm im Pausenhof des Schulgebäudes. Beide harren derzeit der restoratorischen Sicherung und Überarbeitung zur Wiedereingliederung in das Architekturwerk.

Mitte der 1920er Jahre wäre Margarete Scheel fast in den Strudel nationaler Heldenverehrung geraten, als ihr in Rostock der Auftrag für die figürliche Gestaltung eines geplanten Füsilier-Denkmals angetragen wird, den baukünstlerischen Entwurf hatte der Architekt Karl-Ernst Boy übernommen. Der Auftrag wurde schließlich dem Mecklenburger Bildhauer-Kollegen Wilhelm Wandschneider aus Plau am See übertragen, der mit seinen naturalistischen Kriegerhelden deutschlandweit gut im Geschäft war. Noch 1936 gestaltet er für Rostock ein martialisches Skagerrak-Denkmal.

Der Rostocker Kunstwissenschaftler Andreas Lorenzen, der sich 2010 in einem Katalogbeitrag zur Ausstellung „Bildende Kunst in Mecklenburg 1900 bis 1945“ des Kulturhistorischen Museums ausführlich mit dem architekturbezogenen Schaffen Margarete Scheels in Rostock befasste, kommt zu dem Fazit, das diese Werke wegen ihrer Modernität und künstlerischen Reife zu den wichtigsten progressiven Leistungen Mecklenburger Kunst der 1920er Jahre gehören.  In jener Zeit erlebt ihr bauplastisches Schaffen eine vielseitige Ausprägung auch in privaten Aufträgen zur Gestaltung von figürlich-dekorativem Fassadenschmuck, z. B. als Kopfmedaillon oder Tympanon-Relief, etwa am Wohnhaus ihres Bruders, des Orthopädie-Professors Paul-Friedrich Scheel in der Augusten-Straße. In den Jahren der Nazi-Zeit verweigert sich Margarete Scheel offiziellen Aufträgen und zieht sich aus dem öffentlichen Kunstleben weitgehend zurück.

Neben ihren architekturgebundenen Werken, denen sie sich mit besonderer Hingabe im Bewusstsein einer verpflichtenden Tradition des Metiers durch die Jahrtausende menschlicher Kultur-und Kunstgeschichte widmete, stehen zwei Gestaltungsfelder im Mittelpunkt ihres Wirkens als Bildhauerin, Plastikerin und schließlich als Keramik- und Fayence-Künstlerin. Ihre Kleinplastiken baut sie in Gips auf, um sie dann in den Bronzeguss oder Holz zu übertragen. Es sind stehende, sitzende, kniende und hockende, nahezu ausschließlich  weibliche Figuren, die ein zumeist introvertiertes Körper-Raum-Verhältnis ausdrücken, in einigen Beispielen zu Körperbewegungen räumlichen Agierens geführt werden. Diese in den ersten Jahrzehnten entwickelten Figuren-Typen sind voller Innigkeit und Kontemplation, wie in einem künstlerischen Selbstgespräch empfundene Individuen und erinnern in einigen Beispielen der Formensprache an Wilhelm Lehmbrucks maßstabgebenden Figuren-Kanon. Dass Ernst Barlach, der große Holzbildhauer, in diesen Schaffensjahren Margarete Scheels nur knappe 50 Kilometer von Rostock entfernt in Güstrow sein Atelier betreibt und mit seinen skulpturalen Hölzern deutschlandweit bekannt ist, mag die Bildhauerin nur marginal berührt haben, Atelierbesuche sind nicht belegt. In ihren Holzfigurengruppen christlicher Themen und biblischer Motive aus der Mitte der 1920er Jahre, „Jesus unter den Schriftgelehrten“  oder „Christus und die Jünger am Ölberg“ (allerdings beide nur als Abbildung bekannt) meint man den Duktus Barlachscher Gruppenkomposition in ihrer Blockhaftigkeit der Gewandfiguren zu erkennen.

Und dann sind da die Keramik- und Fayence-Objekte als eine liebevolle Nebenbeschäftigung der Margarete Scheel. Schon 1919 hatte sie sich in Berlin mit der Keramik beschäftigt, arbeitete kurzzeitig in der Töpferei Guhl in Teterow und gründet 1920 zu ihrer Rückkehr in die Heimatstadt, in Rostock neben dem Bildhaueratelier auch eine Keramik-Werkstatt. Es entstehen in der Folgezeit Gefäß- und Figuren-Keramiken im Geiste mecklenburgischer Fayence-Traditionen; in Schwerin, Großstieten und Dargun hat es im 18. Jahrhundert solche Fabriken und Manufakturen gegeben. Auch im vorpommerschen Stralsund gab es in jener Zeit eine bedeutende Fayenceproduktion unter der schwedischen Besatzung. Es entstehen in der Scheel‘schen Werkstatt Gefäße, Schalen und Vasen mit phantasievollem Dekor und figürlichen Zeichnungen und kleinfigurige plastische Motive erzählerischer Details in der ornamentalen Gestaltung des Art dèco.

Das Ende des Krieges 1945 brachte auch für die Künste Hoffnungen auf einen Neubeginn. Margarete Scheel hatte das Kriegsinferno mit erheblichen Verlusten überlebt. In der Bombennacht des April 1942 waren Wohnung und Atelier mit vielen ihrer Werke vernichtet worden. Nun engagierte sie sich mit Kolleginnen und Kollegen der malenden und bildhauernden Zunft, mit Thuro Balzer, Hertha von Guttenberg und Kate Diehn-Bitt in den neuen Organisationsformen für bildende Künstler. 1954 ist sie Jury-Mitglied der ersten Ausstellung aktueller Kunst des Bezirkes Rostock. Sie gestaltet Porträts von Helden der Arbeit und des Präsidenten der DDR, eine Trümmerfrau und eine Gruppe Lesender Arbeiter. Für ein Studentenheim entsteht als Giebelrelief eine Gruppe junger Leute mit Fahne. Das alles nun in der Formensprache eines neuen Realismus. Ihre Holzskulptur einer „Säenden“ von 1949 allerdings lässt das ursprüngliche, originäre Talent der Künstlerin noch einmal aufleben.                                                         1954 widmet ihr die befreundete Malerin Kate Diehn-Bitt ein berührendes Altersporträt.

Klaus Tiedemann